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Die Paradoxie

Interpretation von Erika Hackers Werk

Han Yan

1926 brachte Marcel Duchamp Brâncușis Skulptur Der Vogel im Raum von Paris nach New York. Sie wurde an der amerikanischen Zollkontrolle mit dem Hinweis aufgehalten, es handele sich um Manufakturware und diese sei zollpflichtig. Brâncuși protestierte heftig dagegen und hielt dies für äußerst unfair. Danach folgte ein lang andauernder Prozess, bei dem es sich um die Frage drehte, ob Der Vogel im Raum im Sinne eines Metallstücks steuerpflichtig oder ein Kunstwerk sei. 1928 entschied sich das Gericht für Letzteres.[1] Für diejenigen, die die abstrakte Kunst verteidigen, ist dieses Urteil zu einem historischen Sieg geworden: abstrakte Kunst wurde offiziell als Kunst identifiziert.

Ein Werk stellt nicht mehr die naturalistische Gestalt dar, sondern reißt sich von den realen Gegenständen los und verkörpert die abstrakte Idee. Dies ist die Essenz der modernen Kunst. Anders formuliert: der Modernität liegt das Changieren zwischen Affinität und Differenz zugrunde.

Dies ist auch der Ausgangspunkt von Erika Hackers Arbeiten. Wie Fabelwesen (Abb.1), Organic (Abb.2) oder Gedanken Fliegen (Abb.3) sind sie mit stark reduzierter Form gestaltet. Durch die Bearbeitung unterschiedlicher Steine entstehen amorphe Figuren, welche die üppigen Gedanken der Künstlerin widerspiegeln. „Das Eine als Essenz des Vielen.“[1]

Abb.1 Fabelwesen, Serpentin, H.23 cm, 2018
Abb.2 Organic, Bronze, B.40 cm, 2018

Von dieser Perspektive ausgehend, geht es in ihrem künstlerischen Schaffen um die Paradoxie. Natürlich ist dies nicht nur inhaltlich, sondern auch stofflich und sinnlich gemeint. Wenn man Erikas Skulpturen betrachtet, wie Berührt (Abb.4) oder Zusammen-Sein (Abb.5), ahnt man überhaupt nicht, dass es sich um das Abtragen massiver Steine handelt. Die weiche Form verleiht dem harten Material eine Leichtigkeit. Man fühlt sich beim Betrachten der Werke, als ob man in den Armen der Mutter läge oder sich in jemanden verliebe. Es ist nicht verblüffend, dass der Traum auf der Realität basiert und die Kalkulation die Freiheit kreiert, da die Paradoxie als eigentliches Thema der Kunst fungiert.

Abb.3 Gedanken Fliegen, Diorit, B.34 cm, 2015
Abb.4 Berührt, Diorit, H.35 cm, 2012

Die Dinge zu lobpreisen, ist in der Poesie einer der wichtigsten Stile des antiken chinesischen Gedichtes. Die Methode besteht darin, den konkreten Willen des Dichters durch die spezifische Darstellung und das Lob der objektiven Dinge zu formulieren, um auf diese Weise bestimmten Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Mit diesem Modus Operandi stimmt das künstlerische Schaffen Erika Hackers überein. Von Reiner Kunzes Gedicht Rudern zwei inspiriert, schuf die Künstlerin Zwei in einem Boot (Abb.6). Jenseits der figürlichen Darstellung präsentiert sich die Idee, dass beides bedeutend für das gemeinsame Ganze ist. „und am Ende ganz am Ende wird das Meer in der Erinnerung blau sein.“ So göttlich und spirituell ist auch die Arbeit von Erika Hacker!  

Abb.5 Zusammen-Sein, Muschelkalk, H.27 cm, 2008
Abb.6 Zwei in einem Boot, Speckstein, B.17 cm, 2015

[1]Judith Housez: Marcel Duchamp, Grasset & Fasquelle, Paris, 2007, chinesische Ausgabe, 2010, S. 317-318; https://en.wikipedia.org/wiki/Constantin_Brâncuși

[2]Friedrich Teja Bach: Constantin Brâncuși: Metamorphosen plastischer Form, DuMont, Köln, 2004, S. 181-190.


veröffentlicht: Katalog Erika Hacker 2020

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